Wenn man Harald Wefings Kommentar in der Zeit liest, in der er die Erosion des Rechts im digitalen Zeitalter beklagt (mal wieder, muss man hier sagen), weil die Regierung vor “der Internet-Community” eingeknickt sei, könnte man meinen, eine böse Macht habe das Land überrannt und mit Einschüchterung und Drohungen den Rechtsstaat ausgehebelt.
Tatsache ist jedoch, dass das Scheitern des Netzsperrengesetzes ein Akt gelebter Demokratie war. Die vielen Uunterstützer der Anti-Zensur-Kampangen sind nämlich -gemeinsam mit dem Rest der Bevölkerung- der Souverän, von dem -laut Grundgesetz- alle Macht ausgehrt. Diese Macht beschränkt sich nunmal nicht nur darauf, alle 4 Jahre irgendwo ein Kreutzchen machen zu dürfen.
Natürlich kann man Argumente finden, für die Netzsperren. Aber die Ängste von Millionen Menschen, dass die damit geschaffene Kontrollinstanz misbraucht werden könnte, einfach als “Verschwörungstheorie” vom Tisch zu wischen, ist bestenfalls naiv. Es ist ja nicht so, dass der Staat, in Form seiner Organe, nicht schon früher seine Befugnisse immer weiter ausgedehnt hat, so das letztlich nur das Verfassungsgericht einem verfassungswidrigen Misbrauch staatlicher Befugnisse einen Riegel vorschieben konnte.
Wenn Wefing die “Erosion des Rechts”, also die seiner Meinung nach abnehemende Bereitschaft von Netznutzern, sich an Gesetze zu halten, beklagt, beleuchtet er nur die Seite der Nutzer:
Denn einen Staat, der das Recht notfalls auch im Netz durchsetzt, werden wir noch brauchen: um gegen die permanente Enteignung geistiger Arbeit vorzugehen; um den massenhaften Missbrauch von Daten zu unterbinden; und um die Oligopole zu kontrollieren, zu denen sich Konzerne wie Google und Apple mit ihren beispiellosen Überwachungs- und Manipulationsmöglichkeiten längst entwickeln.
Dass das Netz an einigen Stellen bereits völlig überreguliert ist. dass zum Beispiel jeder Blogger überlegen muss, ob er auf einen kritischen Blogeintrag nicht besser verzichtet, weil schon die Nennung eines Firmennamens tausende Euro schwere Urheberrechtsklagen nach sich ziehen kann, und dass eine regelrechte Abmahnmafia im Fahrwasser tatsächlicher Urheberrechtsverletzungen auch unbescholtene Netznutzer mit teuren Abmahnverfahren überzieht, kommt bei Wefing nicht vor.
Viele ungelöste Probleme harren der Lösung, vom Umgang mit Urheberrechtsverstössen, bis zum Umgang mit strafbaren Inhalten. Diese Lösung kann aber nicht von oben diktiert werden, und schon gar nicht von Menschen, denen die Welt der “Digital Natives” so fremd ist, wie die Oberfläche des Mars. Viele Mitglieder der “Online-Gesellschaft” sind in der vernetzten Welt zu Hause, sie wollen keine Auseinandersetzung, keinen “Kampf der Kulturen”, sondern ein friedliches Miteinander unter jenen die im Netz zu Hause sind, und jenen, die nicht im Netz leben. Die Art und Weise wie mit Diffamierungen und Beschimpfungen gegen die “böse Community” gewettert wurde, um das Netzsperrengesetz polpulär zu machen, hat zu teils heftigen und oft auch unsachlichen Gegenreaktionen geführt. Ich halte das nicht für gut, habe aber Verständnis dafür, muss ich doch mittlerweile überlegen ob ich auf gesellschaftlichen Anlässen noch meinen Beruf erwähne, weil ich fürchten muss, gemieden oder geächtet zu werden als “Terrorist”, “Filesharer” oder gar “Kinderschänder”.
Harald Wefing täte gut daran, sich mit Vertretern von Online-Communities und Netzaffinien Menschen einfach mal zu unterhalten. Dann würde er vielleicht erkennen, dass es sich bei diesen nicht um geistig verkrüppelte Soziopathen handelt, die jenseits des Monitors keine Kontakte pflegen können, sondern um Bürger wie Du und ich, die so verschieden sind, wie die Gesellschaft in unserem Land ist.
Wir müssen Guido Westerwelle in einem Punkt
korrigieren. Unsere Gegenwart ähnelt überhaupt
nicht der Zeit der spätrömischen Dekadenz, son-
dern sie zittert vor spätmittelalterlichem, genauer:
frührenaissancehaftem Bewusstsein eigener Ver-
werflichkeit. So haltlos-verworren ist alles, dass
man sich fühlt wie im Florenz des 15. Jahrhun-
derts, kurz bevor der Mönch Savonarola einen
großen Scheiterhaufen errichtet, auf dem iPads
und Manolos in Flammen aufgehen, vor allem
unser mehrdeutiges Denken.
Der Spiegel hat schon mal eine schwarze Kapu-
ze übergestülpt, er geißelt sich und uns diese Wo-
che mit einem langen Litanei-Feuilleton: »Die
Sünde hat ein Imageproblem.« Nein, wir wollen
doch gar nicht mehr sündigen! Zerknirschungen,
Geständnisse, Schwüre, Bekundungen und Loyali-
JOSEF JOFFE ist
tätsbeweise, wohin man horcht. Unser Land
Herausgeber der ZEIT
durchschreitet die Phase der Bußfertigkeit und
bekennt sich aktiv zum Guten: Köln will jetzt soli-
fahrtsreform von 1996 zeigt: Der Anspruch auf le-
de bauen. Westerwelle bekennt sich zum Leis-
benslange Sozialhilfe wurde auf fünf Jahre gekürzt,
tungswillen. Die Springer-Presse bekennt sich zu
Väter wurden rigoros zum Unterhalt gezwungen. Denn einen Staat, der das Recht notfalls auch
Westerwelle, so heftig, dass es der FDP schon mul-
Anderseits gab’s eine Fülle von Arbeitsanreizen: Kitas, im Netz durchsetzt, werden wir noch brauchen:
mig wird. Alle anderen bekennen sich zum Sozial-
Umschulung für Mütter, Vorschulen für »bildungs- um gegen die permanente Enteignung geistiger
staat. Gut deutsch ist das Bekennertum organisiert:
ferne« Kinder, Steuerguthaben für Geringverdiener, Arbeit vorzugehen; um den massenhaften Miss-
In der CDU bekennt sich die Arbeitsgemeinschaft
Geldwertes für Firmen, die Sozialhilfeempfänger brauch von Daten zu unterbinden; und um die
Engagierter Katholiken zum »C«. Von ihr haben
anheuerten. Die Folge? In den folgenden zehn Jahren Oligopole zu kontrollieren, zu denen sich Kon-
sich bereits die Christlich Sozialen Katholiken ab-
sank deren Zahl von 12,2 Millionen auf 4,5 Millio- zerne wie Google und Apple mit ihren beispiel-
gespalten, die sich darüber hinaus auch noch zu
nen. Die Kinderarmut fiel auf den niedrigsten Stand losen Überwachungs- und Manipulationsmög-
Angela Merkel bekennen. Merkel selbst soll sich
seit 30 Jahren. lichkeiten längst entwickeln.
jetzt zu Westerwelle bekennen oder zum Sozial-
Westerwelle hätte just einen solchen Anstoß
staat. Oder zur Springer-Presse. Vielleicht auch zu
geben können. Aber Provokation bringt die bes-
Köln. Oder zu Florenz.
seren Schlagzeilen. Die Empörung auch. THOMAS E. SCHMIDT