Heute morgen am Frühstückstisch entspann sich zwischen Bella und mir ein Gespräch über Integration und Parallelgesellschaften in Deutschland. Anlaß war ein Interview mit dem Leiter des Bremer Ortsamts West, Hans-Peter Mester, im Weser-Kurier vom vergangenen Donnerstag. Der Artikel ist leider nicht online verfügbar.
Meser stellt darin sehr sachlich, und erfrischend unaufgeregt, fest, dass es in “seinem” Stadtteil, Gröpelingen, selbstverständlich Parallelgesellschaften gibt. Der bremer Westen war mit den Werften AG-Weser und Bremer Vulkan in Gröpelingen und den Häfen in Walle ein Zentrum deutschen Schiffbaus und Handels. Dazu gibt es in Gröpelingen ein großes Stahlwerk. Das hat, ganz besonders natürlich in den Jahren des Wirtschaftswunders, viele Menschen angezogen, denn hier gab es Arbeit und die Hoffung auf ein besseres Leben.
Heute sind die meisten Häfen weg, die Werften längst Geschichte. Geblieben sind die Zuwanderer. Auch heute noch ziehen viele Menschen mit türkischem Hintergrund hierher. Für Mester ist das selbstverständlich, schließlich leben dort schon viele Menschen, die türkisch sprechen, und den Neuankömmlingen helfen können. So bilden sich die Parallelgesellschaften von ganz allein. In Bremen-Gröpelingen leben die Menschen verschiedener Kulturkreise nicht in sozialromantischer Verklärung miteinander, sie leben in großen Teilen einfach nebeneinander her, aber in friedlicher Koexistenz.
Die Frage, die sich mir stellte ist die: Ist das denn ein Problem, dass nur die Migranten trifft? Sind wir, z.B. die Nerds, nicht auch eine Parallelgesellschaft? In vielen Bereichen schotten wir uns ab, gegenüber den “Anderen”. Ich spreche oft eine Sprache, die die Nicht-Nerds nicht verstehen, und verzweifle an dem Versuch die Sorgen mancher Mitmenschen zu begreifen. Ich kann meiner Oma nicht erklären was der 27C3 ist, denn sie lebt in einer gänzlich anderen Welt als ich. Ich bin sicher, den meisten anderen Menschen in diesem Land geht das, in vielen Bereichen ihres Lebens ebenso. Wir leben alle in unseren kleinen Parallelgesellschaften, die manchmal geprägt sind, von Dingen die uns persönlich wichtig sind, manchmal von sozialen Unterschieden und manchmal vom Grad der eigenen Bildung.
Hier im bremer Westen leben Ärzte und Arbeiter Tür an Tür, man kennt sich, man respektiert einander, man grüßt. Aber ein Miteinander ist das nicht, auch nur ein Nebeneinander. Der Arzt geht eben in der Regel nicht mit dem Schichtarbeiter der Stahlwerke nach Feierabend ein Bier trinken. Unsere Gesellschaft ist geprägt von solchen kleinen, völlig unterschiedlichen Lebenswelten. Will man positiv darüber reden, nennt man das “Pluralismus”.Die von Konservativen viel beschworene “Mehrheitsgesellschaft”, hier im Bremer Westen gibt es sie nicht.
“Six degrees of Seperation” nennt sich eine Theorie, nach der sich zwischen zwei beliebigen Menschen eine Verbindung herstellen lässt, die nur über Menschen führt, die einander kennen. Maximal sechs Menschen, so die Theorie, stehen zwischen zwei beliebigen, einander unbekannten Individuen auf dieser Welt. Empirische Studien haben gezeigt, dass die These stimmt, allerdings kristallisiert sich heraus, dass über manche Menschen mehr dieser Verbindungen laufen, als über andere. Es gibt Menschen, die sind mit vielen anderen vernetzt, sie sind die Schnittpunkte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, weil sie Kontakte in Gruppen haben, die eigentlich gar nichts mit einander zu tun haben. In der Netzwerktheorie heißen solche Knotenpunkte “Hubs”. Die einzelnen Gruppen einer Gesellschaft sind durch solche Hubs mit einander vernetzt, über sie funktioniert die Kommunikation. Das “Integrationsproblem” entsteht in einer Gesellschaft immer dann, wenn man eine gesellschaftliche Gruppe nicht erreichen kann, weil es gar keine Hubs gibt, die in diese Gruppe hineinführen. Um die Gruppe als solches zu erreichen, ist es daher gar nicht nötig, jeden einzelnen zu erreichen, die Schaffung von ausreichend “Hubs” genügt. Damit kann dann der nötige Einfluß in eine Gruppe getragen werden, damit zumindest eine friedliche Koexistenz, besser noch ein “Miteinander” ermöglicht wird. Leider hat unsere Gesellschaft die Tendenz gerade diese Knotenpunkte aufzulösen, und somit Parallelgesellschaften zu schaffen, die nicht mehr über Hubs mit dem Rest der Gesellschaft verbunden sind. Dabei geht es nicht nur um vermeintlich oder tatsächlich “integrationsunwillige” Ausländer, sondern auch um Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter, Menschen mit Behinderungen und so fort, auf der anderen Seite stehen Banker, Politiker, Ärzte deren Integrationsunwilligkeit eigentlich ebenso zu beklagen wäre, weil sie auch nicht bereit sind, Verbindungen in andere Gruppen zu schaffen.
In einer Zeit, in der uns die Technik die Vernetzung so leicht macht, wie noch niemals zuvor, zeichnet sich ein gefährlicher gesellschaftlicher Trend ab, nämlich der Zerfall einer vernetzten Gesellschaft im viele kleine Parallelgesellschaften, die zwar untereinender, aber mit anderen gar nicht mehr kommunizieren. Die Ausländerpolitik ist hierbei nur ein Beispiel von vielen. Will man daran etwas ändern, muss man überall dort ansetzen, wo Hubs entstehen. In Kirchen, in Moscheen, in Vereinen und in Schulen. Die Vernetzung von Gruppen zu fördern ist aber eine mühsame Arbeit, weil man dahin gehen muss, wo die Menschen sind. Man muss sich öffnen, für die anderen, zuhören. Ein Patentrezept, das man stolz der Öffentlichkeit präsentiert, und das eine tolle Schlagzeile macht, gibt es hingegen nicht. In unserer von Aufmerksamkeitsökonomie geprägten Welt, ist wird es schwer sein, dafür Unterstützung zu gewinnen.