Mit ‘Schirrmacher’ getaggte Artikel

Offener Brief an Frank Schirrmacher

Am 16.11. veröffenlichte der Journalist und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, auf Spiegel.de einen Beitrag zur Entwicklung der Informationstechnologien und dem Verhältnis des Menschen zu dieser Entwicklung.

Abgesehen davon, dass die meisten Digital Natives vermutlich Schirrmachers Überforderungsthesen nicht nachvollziehen können, offenbart Herr Schirrmacher eine -in meinen Augen- recht eigenwillige Interpretation der darwinschen Evolutionslehre. Ich habe aus diesem Grund einen offenen Brief an Herrn Schirrmacher formuliert, den ihr im Folgenden nachlesen könnt:

Sehr geehrter Herr Dr. Schirrmacher,
ich verfolge die aktuelle Debatte uber die Zukunft der Medien in Zeiten des Internet mit großem Interesse. Daher habe ich auch Ihren Beitrag “Mein Kopf kommt nicht mehr mit“
vom 16.11.2009 auf Spiegel-Online gelesen. Sie schreiben darin, aus Ihrer persönlichen Sicht von der Informationsflut, die durch die digitale Vernetzung täglich uber uns hereinbricht, und
von den Problemen die diese Ihnen, und mit Ihnen auch vielen anderen Menschen, beschert.
Als Angehörigem der “Generation C64“ und ” Digital Native“ f ällt es mir schwer einige der Probleme nachzuvollziehen, die Sie schildern. Nun liegt es mir natürlich fern, Ihre persönlichen Eindrücke zu kritisieren, und ich gebe Ihnen völlig recht, wenn Sie sagen, dass es wohl eine Menge Menschen gibt, denen es ganz  ähnlich geht wie Ihnen.
Dennoch gibt es einige Punkte in Ihrer Argumentation, die ich nicht teile. Zunächst einmal schreiben Sie uber das Gefühl den Maschinen unterlegen zu sein:

“Auf der ganzen Welt haben Computer damit begonnen, ihre Intelligenz zusammenzulegen und ihre inneren Zustände auszutauschen; und seit ein paar Jahren sind die Menschen ihnen auf diesem Weg gefolgt. Solange sie sich von den Ma-
schinen treiben lassen, werden sie hoffnungslos unterlegen sein.”

An diesem Punkt kann ich Sie beruhigen: Wir sind diesen Maschinen nicht unterlegen, allenfalls denen, die sie betreiben. Computer verf ügen uber keine Form von echter Intelligenz, sie

sind sogar besonders dumme Maschinen. In ihrer Stupitität tun sie immer nur das, was der Programmierer oder der Anwender ihnen gesagt hat, selbst wenn es offensichtlich scheint, dass die Anweisungen unsinnig sind. Genau deshalb fluchen sicher auch Sie manches Mal uber Ihren Computer, weil dieser einmal mehr an einer scheinbar trivialen Aufgabe scheitert. Es sind nicht die Algorithmen die wir f ürchten sollten: Mathematik ist wunderbar vorhersagbar. Jeder, der dies will, kann einen Algorithmus verstehen. Misstrauisch sollten wir denen gegenüber sein, die uns duch die Labyrinthe der Datenwelt führen wollen. Nicht jeder dieser Führer verfolgt lautere Absichten.
Weiterhin schreiben Sie uber das Verhältnis des Menschen zur Information:

“Die drei Ideologien, die das Leben der Menschen in den letzten zwei Jahrhunderten bis heute am nachhaltigsten verändert haben, waren Taylorismus – also die Arbeitsoptimierung“, gesteuert durch die Stoppuhr und den Zwang zur äußersten Effizienz -, Marxismus und Darwinismus.”
An dieser Stelle muss ich entschieden Einspruch erheben. Sie nennen als drei “Ideologien“ Taylorismus, Marxismus und Darwinismus in einem Atemzug. Anders als bei den ersten
beiden, handelt es sich beim Darwinismus jedoch mitnichten um eine Ideologie. Darwinismus, und die in der modernen Biologie daraus hervorgegangene synthetische Evolutionstheorie, sind mitnichten Ideologien, sondern vielmehr wissenschaftliche Erklärungsmodelle. Später in Ihrem Text, verwenden Sie den Begriff auch nochmals in eben diesem Kontext.
Zugegeben, die Idee, den Entwicklungen der elektronischen Kommunikation mit Mitteln der modernen Biologie beikommen zu wollen, ist verlockend. Allerdings darf man nicht vergessen, dass es sich bei Internet und Mobilfunk um Kulturtechniken handelt, nicht um einen natürlichen Prozess. Das bedeutet vor allem, dass wir einen gewissen Einfluss auf die Gesetze haben, die den Prozess steuern. Bei Naturgesetzen gibt es das nicht. Die Modelle der Evolution greifen daher nur bedingt, und wir sollten uns hüten voreilige Schlüsse zu ziehen.
Tatsächlich beschleicht mich beim Lesen Ihres Textes das Gefühl, dass Sie der Versuchung erlegen sind, die Mechanismen der Evolution nicht nur eins zu eins in die digitale Welt zu
ubertragen, sondern auch der Verlockung einiger Schlagwörter der Evolution nicht widerstehen konnten. Richtigerweise beklagen Sie, dass das was zuf ällig erscheint, tatsächlich oft
Machtgesetzen gehorcht, die der Einzelne mitunter gar nicht bemerkt. Dass großen Spielern wie Google dabei eine entscheidene Rolle zukommt, steht ausser Frage; Sie schließen jedoch daraus, dass hier ein “Kampf ums Dasein“ stattfindet, in dem sich der Stärkere gegen den  Schwächeren durchsetzt, und nennen das dann Darwinismus.

Dem liegt aber ein Missverständnis des Evolutionsgedankens zugrunde. Darwin schrieb vom “Struggle for survival“ und “Survival of the fittest“. Auch wenn man bei dieser Wortwahl
an das fit-werden im Sportstudio denken mag, das englische Wort “fit“ bedeutet “passend”, und so ist es auch gemeint. Uberleben tut, laut Darwin, derjenige, der f ür die aktuellen
Lebensbedingungen am besten passt. Ein Kampf, bei dem stärkere Organismen aktiv gegen schwächere vorgehen, kommt bei Darwin gar nicht vor, und ist in der Natur eher die Ausnahme.
Betrachtet man, was ich nicht für einen unpassenden Ansatz halte, die Entwicklung der Datennetze aus darwinistischer Sicht, muss man zunächst klären, wer denn die eigentlichen Akteure sind. Dies sind, aus evolutionstheoretischer Sicht nämlich keineswegs Google oder Microsoft, sondern die Informationen selbst. Tatsächlich sind die Akteure der biologischen Evolution, die Gene, selbst nichts als Information. Die Umweltbedingungen geben dabei vor, welche Informationen nützlich sind, und welche nicht. Ob die Information im Netz Verbreitung findet hängt davon ab, wie viel Aufmerksamkeit sie erhalten. An diesem Punkt ist Ihr Ansatz, die Aufmerksamkeit der Nutzer als Futter“ für die Information zu betrachten, gar nicht abwegig. Allerdings ist die Aufmerksamkeit in diesem Modell nicht die Nahrung, sondern die Kraft der Selektion. So wie in der Natur Klimabedingungen oder die Anwesenheit bestimmter  Chemikalien die Chancen der Gene selektieren, ist es im Netz die Aufmerksamkeit der Nutzer, die die Überlebenschanchen der Informationen bestimmt.
Aus dieser Sicht sind Google und Co. die “Organismen“ im Netz, die phänotypische Ausprägung der Informationen, die sie in sich tragen.
Und hier schließt sich der Kreis, denn es sind wir Menschen, die die Selektionsbedingungen in den Informationsnetzen selbst gestalten. Ändern wir die Umweltbedingungen im Netz, so
werden Machtansammlungen wie die von Google plötzlich auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Arten landen. Viele “Digital Natives“ wissen das, und werden dieses Wissen in
Zukunft auch nutzen. Schließlich wollen sie ja, dass sich ihre Information im Netz verbreiten kann.
Falls Sie noch nicht die Zeit gefunden haben Charles Darwins Werk “Die Entstehung der Arten“ zu lesen, möchte ich Ihnen die Lektüre nahelegen. In den -zweifelsfrei noch kommenden-

Debatten uber die Evolution der Information wird dieses Buch Ihnen als Argumentationshilfe sicher von großem Nutzen sein.